Über die »Qual der Wahl«

Geht es Ihnen wie uns? Ist Ihnen die (Bundestag-)Wahl eine Qual? Wissen Sie nicht, wem sie ihre Stimme(n) geben sollen?

Dabei haben Wahlen eine hohe (nicht nur symbolische) Bedeutung. Sie sind die politischen Rituale, in denen sich die parlamentarischen Demokratien mit (notwendiger) Legitimität versorgen. Die Ausübung des Stimmrechts ist entsprechend der wichtigste politische Akt im Rahmen der Demokratien westlicher Prägung – geht doch alle Gewalt (zumindest formell) vom Volke aus, wie es im Deutschen Grundgesetz (Art. 20, Absatz 2) heißt.

Zur Geschichte der Demokratie und des Parlamentarismus

Die Wiege der Demokratie wird im Allgemeinen im antiken Griechenland verortet. Allerdings wird so manchen erstaunen, dass Aristoteles, jener antike griechische Philosoph der über viele Jahrhunderte hinweg als geradezu »unfehlbar« galt, die Demokratie (neben Oligarchie und Tyrannis) als eine »entartete« Verfassungsform betrachtete. Doch so wie Aristokratie und Monarchie in seinen Augen gute Verfassungsformen darstellen, so gibt es auch eine gute Form der Herrschaft der vielen: die Politie. Zwar ist die Demokratie unter den schlechten Verfassungsformen noch die beste (da der Eigennutz des »gemeinen Volks« dem Eigennutz der Oligarchen und schon gar einer tyrannischen Alleinherrschaft vorzuziehen ist). Doch das radikal ausgelegte Prinzip der Gleichheit, das vorschreibt, dass in einer Herrschaft des Volkes – und nichts anderes bedeutet der Begriff der Demokratie wörtlich – Ämter unter den Bürgern ausgelost werden sollen, war nicht die Sache des Aristoteles.

In Verfassungen nach dem »Idealtyp« der Politie werden die Amtsträger hingegen gewählt. Dies führt gemäß Aristoteles tendenziell dazu, dass das Gemeinwesen von den Vernünftigen und Tugendhaften gelenkt wird, die er allerdings in einer ganz bestimmten Schicht verortet. Er führt aus: »Daher beanspruchen vernünftigerweise die Ehre die Edel-geborenen, die Freien und die Reichen. Denn es muß Freie geben [welche die öffentlichen Ämter besetzen] und Leute, die die Steuerlast tragen. Nicht könnte ein Staat bestehen aus lauter Mittellosen, ebenso nicht aus Sklaven.« (Politik: 1283a) Die antike Polis war aber nicht nur dem aristotelischen Ideal nach eine (auf Sklaverei gegründete) Gesellschaft, in der tatsächlich weder ökonomische, soziale noch politische Gleichheit herrschte. Die politische (Herrschafts-)Klasse rekrutierte sich formell und faktisch aus dem relativ kleinen Kreis der männlichen Vollbürger.

Doch nicht einmal ein derart eingeschränktes Modell der Demokratie konnte sich verbreiten, vielmehr wurde es auch im antiken Griechenland nach der Errichtung des alexandrinischen Großreiches immer weiter zurückgedrängt. Auch die römische Republik blieb nur eine Episode. Die Idee der Demokratie erlebte erst mit der Französischen Revolution eine Renaissance und verbreitete sich schrittweise über den Kontinent. Das bedeutet aber nicht, dass es vor dem modernen Zeitalter der Demokratie keine Parlamente oder Wahlen gegeben hätte. Tatsächlich ist insbesondere das Parlament auch eine traditionelle Institution des Feudalismus. In verschiedenen Formen von Versammlungen (in Frankreich »Parlement« genannt) konnten Adlige und Ständevertreter, später auch gewählte Volksvertreter, vor allem über das Budget des feudalen Staats mitentscheiden. Die parlamentarische Tradition besteht zum Beispiel in England seit dem 13. Jahrhundert. Einen Sonderfall stellt die Schweiz dar, denn hier gibt es sogar basisdemokratische Traditionen, die ebenfalls bis weit ins Mittelalter zurückreichen.

Demokratie in Deutschland – ein angespanntes Verhältnis

In Deutschland hingegen konnte sich – zumindest auf übergeordneter Ebene – der demokratische Gedanke erst relativ spät durchsetzen. Zwar kannte man auch im Heiligen Römischen Reich die Institution der Reichtage. Ein demokratischer, vom Volk in freier, gleicher und geheimer Wahl gewählter Reichstag entstand aber erst mit der Weimarer Republik (nach dem Ende der Monarchie infolge des verlorenen Ersten Weltkriegs).

Formell blieb die Weimarer Reichsverfassung auch während der Zeit des Nationalsozialismus in Kraft. Erst 1949 wurde sie in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz abgelöst. Dessen Motto scheint zu lauten: so wenig Demokratie wie möglich – um gerade noch als parlamentarische Demokratie durchzugehen. Es gibt sogar einen Inlandsgeheimdienst, genannt »Verfassungsschutz«, dessen Aufgabe es ist, die Verfassungstreue von Organisationen und Bürgern zu überwachen – eine nahezu einmalige Konstruktion in einer westlichen Demokratie. Man kann die Skepsis gegenüber dem eigenen Volk angesichts der Zerstörung, welche das NS-Regime über die Welt gebracht hat, zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Allerdings hatten sich die Eliten und »Führer« in der Vergangenheit in Deutschland als noch weit weniger vertrauenswürdig erwiesen als das (leider überwiegend recht obrigkeitshörige) »einfache« Volk. Insoweit bleibt weitgehend unverständlich, warum in Deutschland (insbesondere plebiszitäre) Demokratie als gemeinhin »Wagnis« gilt (wie die SPD es in ihrer Wahlkampagne von 1969 ganz offen formulierte).

Der wahlberechtigte Bürger hat entsprechend, nachdem er seine Stimme abgegeben hat, keinerlei direkten politischen Einfluss mehr – egal ob die gewählte Partei ins Parlament einzieht oder die Stimme durch die 5%-Hürde »verloren« geht. Einmal gewählt können die Volksvertreter, geschützt durch das Prinzip des freien Mandats, in ihrem Stimmverhalten nämlich schalten und walten, wie es ihnen (bzw. Ihrer Partei) beliebt. Die einfachen Bürger können in der Bundesrepublik, ganz nach dem Muster des Feudalstaats, gegenüber dem Parlament nur mehr als Bittsteller auftreten und (unverbindliche) Petitionen einreichen. Die Verfassungsrealität sieht aber noch schlimmer aus. Das (immerhin direkt gewählte) Parlament, bei dem die zentrale politische Entscheidungs-macht verfassungsgemäß liegen sollte, fungiert häufig nur mehr als »Abnickverein« der (in den Gremien der Mehrheitsparteien bestimmten) Regierung – die eigentlich nur als das ausführende Organ (Exekutive) der Parlamentsbeschlüsse gedacht ist. Das freie Mandat wird aber selbst in den Oppositionsparteien durch den Fraktionszwang zur Makulatur. Von den »Parteisoldaten« aller Parteien – egal ob aus dem Regierungslager oder aus der Opposition – wird nämlich erwartet, dass sie so abstimmen, wie die Par-tei-/Fraktionsführungen es festgelegt haben. Als Disziplinierungsmittel dient dabei, dass die Parteien (durch die Vergabe von Wahlkreiskandidaturen und Listenplätzen) letztlich darüber entscheiden, wer Chancen hat, als Abgeordneter in die Parlamente einzuziehen und wer eben nicht.

Kritisch betrachtet ist die Bundesrepublik aber nicht einmal eine (durch innerparteiliche Machtdynamiken verzerrte) Wahloligarchie. Denn für einige Betrachter liegt die wahre politische Macht weder beim Parlament noch bei der Regierung noch bei den politischen Parteien und ihren Führungen, sondern einflussreichen privaten Interessengruppen (nicht nur aus der Wirtschaft), auf die die Bürger nicht einmal qua Wahl Einfluss haben. Diese Wahrnehmung könnte ein Grund dafür sein, dass eine Gruppe nahezu stetig anwächst: die »Partei« der Nichtwähler.

Die Transformation der Demokratie

Doch ist es klug, sich von der (Bundestags-)Wahl zu enthalten, selbst wenn man der Auffassung ist, dass die Entscheidungen jenseits des Parlaments gefällt werden oder die eigene Stimme sowieso kein Gewicht haben wird? – Die Zweifel an den realen Chancen zu einer tatsächlichen Veränderung der Verhältnisse durch den Wahlakt sind keineswegs neu. Bereits in den 1960er Jahren konstatierte etwa der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli eine »Transformation der Demokratie«. Dieser Transformation (der Volksherrschaft zur Oligarchie) dient ein alter Trick, den bereits Reichskanzler Bismarck erfolgreich angewandt hatte: die Unterdrückung der Kräfte der Veränderung (Sozialistengesetze) bei gleichzeitiger Sicherung des sozialen Friedens durch Umverteilungsmaßnahmen (Sozialgesetzgebung). In der Bundesrepublik ist gemäß Agnoli hinzugekommen: die Reduzierung des Antagonismus (von Kapital und Arbeit) auf einen Interessenpluralismus sowie – durch das Repräsentationsprinzip – die Sicherstellung, dass die Mehrheit der Bevölkerung vom Machtzentrum ferngehalten wird. Es gibt auf diese Weise nur mehr Führungskonflikte und Systemkonflikte werden vermieden: »Der Verteilungsmodus der Machtpositionen […] zwingt die Parteien dazu, sich der jeweiligen Position anzupassen und den gesellschaftlichen Kampf in der Taktik des Wahlkampfs zu berücksichtigen. Insofern entdecken bei einer Kohlenbergbaukrise alle Parteien ihr Herz für die Kumpel« (Agnoli 1967).

Heute würde man den Beispielbegriff »Kohlenbergbaukrise« wahrscheinlich besser durch »Klimakrise« ersetzen. Der Effekt bleibt derselbe: »Die Parteien trennen sich von der eigenen, aktuellen oder potentiellen gesellschaftlichen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen.« (Ebd.) Durch die Konkurrenz um Posten und Privilegien wird ein Interesse aller Parteien an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse geschaffen. »So wird das wirkliche Gesicht der Volksparteien offenbar: Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei« (ebd.). Der Wechsel von Personen und Gruppen bedeute lediglich eine »Wachablösung«.

Die Möglichkeit der Veränderung

So pessimistisch diese Analyse erscheint, selbst Agnoli kann die reale Möglichkeit der Veränderung der Verhältnisse durch Wahlen nicht negieren. Denn auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, dass die Mehrheit ihre Stimme an Parteien gibt, die tatsächlich gewillt sind, die demokratischen Rechte zu stärken: die Wahlzettel bleiben »ein mögliches Mittel einer permanenten Revolution« (ebd.). Die Jahrhunderte alte basisdemokratische Tradition der Schweiz zeigt, dass mehr Demokratie keine Fiktion bleiben muss, wenn die Bürger dies mit Nachdruck fordern.

Erweiterte Möglichkeiten der politischen Partizipation ergeben sich insbesondere durch digitale Transformationen der Demokratie. Während die klassischen Formen der repräsentativen Demokratie nur als starr und wenig responsiv empfunden werden können, ermöglichen digitale Technologien flexiblere, effizientere und direktere Formen der demokratischen Beteiligung. Online-Umfrage-Tools, die in kürzester Zeit Meinungsbilder einfangen können, und die technische Unterstützung von Volksentscheiden ohne den unbequemen Gang zur Wahllokalität sind dabei nur die ersten Vorboten einer möglichen digitalen Revolution der Demokratie. Deutlich weitreichender ist das Konzept der sogenannten »fluiden Demokratie« (Liquid Democracy), das in dialektischer Synthese direkt-demokratische Prinzipien mit einem System flexibler Repräsentation vereint: Der Citoyen erhält die Option, in jeder Sachfrage entweder unmittelbar zu votieren oder sein Stimmrecht an beliebige Akteure zu delegieren. Die Möglichkeit der Delegation löst die inhärenten Limitierungen der direkten Demokratie auf, wodurch der Ansatz prinzipiell auf die Gesamtheit der politischen Entscheidungen anwendbar sein könnte.

Doch die Digitalisierung demokratischer Praxis birgt indes auch signifikante Risiken. Fragen des Datenschutzes und der Manipulationssicherheit von digitalen Abstimmungen müssen gelöst werden. Noch bedrohlicher jedoch erscheinen neue Formen der digitalen Demagogie: Algorithmen-gesteuerte Filterblasen, gezielte Propaganda und die emotionale Aufladung politischer Debatten in sozialen Medien drohen, den demokratischen Willensbildungsprozess zu korrumpieren. Die vermeintliche Stärke der fluiden Demokratie – ihre unmittelbare Responsivität – birgt so das Potential ihrer Perversion im Mahlstrom orchestrierter Massenmobilisierung.

Zudem stellen alle Formen der direkten Demokratie höhere Anforderungen an die Bürger. Wer mehr mitentscheiden will, muss/sollte sich auch intensiver informieren. Und naturgemäß gibt es keine Garantie, dass die Ergebnisse unter digitaldemokratischen Bedingungen »besser« ausfallen als im etablierten System. Die Demokratie wird also auch im digitalen Zeitalter anstrengend und mitunter frustrierend bleiben. Doch sie bietet mehr Möglichkeiten denn je, die politische Zukunft aktiv mitzugestalten – wenn wir bereit sind, uns dieser Herausforderung zu stellen.